Epitaph des Überlebenden
„Eine Waffe verbirgt nichts. Sie ist, was sie ist. Ob sie es will oder nicht.“ —Der 14. Heilige zu Shaxx
Der erste Eliksni zu sein, der sich seit dem Wirbelwind in der Präsenz des Reisenden sonnen durfte, war für Mithrax, den Kell vom Haus des Lichts, eine Ehre, die er sich für sich selbst niemals hätte vorstellen können. Während er auf dem Steg des Turms unter der Narbe stand, die die Allmacht hinterlassen hatte, blickte er auf die Entscheidungen in seinem Leben zurück, die ihn an diesen Punkt geführt hatten. Er fragte sich, ob es einen einenden Faden gab, der all diese Ereignisse zusammenband. Aber er hatte nicht allzu viel Zeit, über diese Dinge nachzudenken.
Ein Schatten zog über Mithrax auf: breite Schultern, ein gewundenes Horn. Die scharfe Silhouette von Lord Shaxx auf den Stufen aufragen zu sehen, löste jahrhundertealte Instinkte in ihm aus. Nur seine Besonnenheit hielt Mithrax davon ab, nach seiner Waffe zu greifen.
„Ich hatte nicht erwartet, dich tatsächlich hier vorzufinden“, bemerkte Shaxx, der langsamen, trottenden Schrittes die Treppe hinunterging. „Warst du dort?“
„Wie bitte?“
Shaxx blieb neben Mithrax am Geländer stehen. „Warst du dort?“, fragte er erneut. Dieses Mal deutete er, ohne hinzusehen, auf einen hinter dem Reisenden liegenden Ort am Horizont.
Mithrax folgte Shaxx' Geste mit den Augen. Er verstand nicht.
„Die Schlacht der Sechs Fronten“, beharrte Shaxx mit einer uncharakteristischen Sanftheit. „Weißt du, wie viele Gefallene ich dort getötet habe?“
Mithrax reagierte angesichts dieser Frage gereizt und spürte abermals den instinktiven Drang, nach seinen Waffen zu greifen. Doch die Gegenwart des Reisenden und die Frage, die ihn im Hinterkopf beschäftigte, geboten seinen Händen, Ruhe zu bewahren. „Wie viele?“, fragte er, obwohl er die Antwort gar nicht hören wollte.
Shaxx atmete schwer aus, verschränkte seine Arme über dem Geländer und stützte sich mit seinem beträchtlichen Gewicht darauf ab. „Hunderte“, sagte er leise. „Und sie alle starben von Angst erfüllt.“
Mithrax spürte, wie sich in seiner Kehle Äther mit Gallenflüssigkeit mischte. Seine Gliedmaßen zitterten, Wut tobte in seinen Gedärmen, alles in ihm schrie nach Manifestation. Doch er unterdrückte seinen Zorn und seufzte so inbrünstig, dass der Äther in seinem Atem kurz als schillernde Wolke sichtbar wurde.
„Wie viele Menschen hast du getötet?“, wollte Shaxx wissen.
„Zu viele“, antwortete Mithrax, und selbst das ging ihm nur schwer über die Lippen. Bei dem Gedanken daran gerieten seine Gedärme in Aufruhr. Er stieß einen weiteren, noch tieferen Seufzer aus, und Shaxx betrachtete das Glitzern des freigesetzten Äthers in dem schwachen Gegenlicht.
„Als ich hörte, du seist im Turm“, sagte Shaxx, „kam mir der Gedanke, dich einfach über die Mauer zu werfen. Ich dachte an die Menschen, die ich über die Jahre hinweg durch die Hand eurer Häuser habe sterben sehen. Die im Dunklen Zeitalter Glied für Glied zerfetzten Lichtlosen.“ Er gab ein freudloses Schnauben von sich. „Dann begann ich, mich an sie zu erinnern.“
Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen ihnen – lange genug, dass Mithrax fragen konnte: „An wen?“
„Drei Plünderer. Zusammengekauert in einem kollabierten Abzugschacht. Sie hatten in einer … einer Zeit der Hungersnot Nahrungsmittel gestohlen. Vielleicht für sich selbst, vielleicht für eine andere Siedlung, vielleicht für ihre Familien …“ Shaxx zuckte die Achseln. „Ich habe sie getötet. Alle drei, mit meinen bloßen Händen.“
„Unter meinen Opfern waren auch Menschen“, stellte Shaxx klar, und der Kell spürte, wie sich sein Zorn in Verwirrung verwandelte. „Ich war ein Kriegsherr im Dunklen Zeitalter. Überzeugte mich selbst von der Notwendigkeit meiner eigenen Barbarei, indem ich sie in edle Farben tauchte. Diejenigen, die mir treu ergeben waren, erschufen eine Legende, die das Blut und das Verderben kaschierte. Aber sie sind nach wie vor da.“ Er tippte mit seinen Fingern gegen seinen Brustpanzer. „Tief drin.“
Die Schatten waren länger geworden, die Sterne zeigten sich jetzt am Himmel, und der Reisende lag zur Hälfte im Dunkeln.
„Es gab da ein Schiff“, erwiderte Mithrax schließlich. „Es könnten Soldaten gewesen sein. Zivilisten. Ich weiß es nicht.“ Er wandte den Blick vom Reisenden ab, als er fortfuhr. „Ich führte einen Entertrupp an. Wir schlachteten jeden ab, der sich widersetzte, und trieben alle anderen, die sich ergaben, zusammen.“
Shaxx drehte sich mit einer wortlosen Frage unter seiner gesichtslosen Maske zu Mithrax um.
„Wir stritten darüber, wie wir mit den Gefangenen verfahren sollten. Einige schlugen vor, dass wir sie als Trophäen der Abschreckung behalten sollten. Andere meinten, wir sollten mit ihnen verhandeln.“ Mithrax wandte mit hängenden Schultern den Blick ab. „Aber ich war jung. Ungeduldig.“ Er schloss die Augen. „Ich öffnete die Luftschleuse. Das erschien mir die einfachste Lösung.“
Beide Soldaten wurden still und verharrten gemeinsam in Schweigen, bis das letzte bisschen Sonnenlicht hinter dem Horizont versunken war. Shaxx verabschiedete sich mürrisch, und Mithrax blieb mit dem Restgefühl der Wut und der Verwirrung zurück, sowie paradoxerweise mit einer Antwort.
Er erkannte nun den Faden der Entscheidungen, die zu diesem Augenblick geführt hatten. Der Entscheidungen, die den Weg zur Großen Maschine wiesen und von einem Schicksal, wie es Eramis ereilt hatte, wegführten. Etwas, das sowohl er als auch Shaxx trotz der Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht hatten und die ihnen etwas anderes vermittelten, gelernt hatten.
Gnade.